Ernst Moritz Arndt in der deutschen Literaturgeschichtsschreibung

Von Walter Baumgartner

 

        Und wenn der Mann nicht Waffen trägt,

        Und das Weib sich nicht fleißig am Herde regt,

        So kann’s auf die Länge nicht richtig stehen,

        Und Haus und Reich muss zu Grunde gehen.

                        (Arndt, in Grundlinien einer teutschen Kriegsordnung, 1813)

Ein Einstieg

Es gibt eine ganze Reihe von Aufsätzen zu Arndt gerade auch von Greifswalder Kollegen verschiedener Fachrichtungen. In Walter Erharts und Arne Kochs Einleitung zu ihrem Sammelband von 2007, Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, ist zu lesen:

„Nach 1945 geriet Arndt … in eine ebenso verdiente wie gründliche Vergessenheit“ (S. 2)

„Der Verlust ihrer [der Werke Arndts] propagandistischen Bedeutung zählt zweifellos zu den großen republikanischen Errungenschaften der (west-)deutschen Geschichte und Politik nach 1945.“ (S. 3)

Weiter: „Niemandem dürfte es heute daran gelegen sein (…) einen ‘anderen‘ oder nunmehr ‘ganzen‘, ‘reinen‘ gar einen endlich ‘wahren‘ Arndt zu entdecken. Niemand sollte heute auch ein Interesse haben, das Bild eines Ernst Moritz Arndt ‘gerade zu rücken‘ und die offensichtlichen nationalistischen, antifranzösischen und rassistischen Töne in seinem Werk zu verkennen oder zu verschleiern. Im Gegenteil.“ (S. 6)

Es könnte sein, dass die Autoren übersehen, dass es Burschenschaftler, Neonazis und eine schweigende Mehrheit gibt, deren Heimatliebe noch von der Art ist wie die Arndts, nämlich gekennzeichnet von einem – Erhart/Koch: „schmalen Grat zwischen Patriotismus und Chauvinismus“ (S. 2).

Jürgen Schiewe, in Erhart/Koch, spricht aus der Sicht des Sprachhistorikers ein – auf einen Akademiker (Historiker!), „Volkserzieher“ und Namenspatron einer Universität bezogen – vernichtendes Urteil aus: „Arndt reduziert die [= seine] Rhetorik auf das Moment des ‘movere‘ (…) er fügt gar das Moment des ‘Beherrschens’ hinzu. Nicht hinein (…) nimmt er (…) das Moment der „Ermittlung der Wahrheit“ (S. 120).

Walter Erhart deutet eine Ehrenrettung Arndts an, insofern es bei ihm unfreiwillige Komik, unfreiwillige Doppelbödigkeit und Ähnliches gibt. Vgl. auch den Beitrag von Sigrid Nieberle, der die unfreiwillig erzeugte Vorstellung in „Was ist des Teutschen Vaterland“ goutiert, dass der liebe Gott im Himmel [vermutlich deutsche!] Lieder singt. Darüber lachte schon Nietzsche.

Die Studierenden in Greifswald lernen im Fach Interkulturelle Kommunikation aus ihrem Lehrbuch (Hans-Jürgen Lüsebrink: Interkulturelle Kommunikation), dass einer der herausragenden Vertreter der Konstruktion nationaler Feindbilder im nationalistischen Diskurs Ernst Moritz Arndt sei: „Besonders augenfällig, explizit und virulent erscheint dieser Zusammenhang von nationaler Identität und nationalen Feindbildern im nationalistischen Diskurs des 19. und der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Einer seiner herausragenden Vertreter war Ernst Moritz Arndt (1769-1860), der Wortführer des frühen deutschen Nationalismus und neben Johann Gottlieb Fichte und Ludwig Jahn der einflussreichste und massenwirksamste Vordenker des deutschen Nationalismus im 20. Jahrhundert. Arndts Diskurs über das Fremde, als dessen Verkörperung er die Franzosen ansah, ist geprägt von einer grundlegenden Abwertung des Anderen, das als Bedrohung gesehen wird, einer hiermit korrespondierenden Aufwertung des Eigenen, der eigenen Nation und Mentalität, und einer tendenziell negativen Einstellung gegenüber interkulturellen Beziehungen, die, so Arndts Vorstellung, das „Eigene“ schwächen und seine Entfaltungsmöglichkeiten beeinträchtigen. Seine Schrift „Über Volkshaß und den Gebrauch einer fremden Sprache“ (1813) illustriert diese Konfiguration.“ (S.83)

Als Beleg ist ein langes Zitat aus Arndts „Über Volkshass und den Gebrauch einer fremden Sprache“ (1813) abgedruckt (vgl. zu Argumentation und Zitat S.83-86).

Der Romanist Lüsebrink (Universität Saarland) hat einschlägig zum Thema deutsch-französische Kulturbeziehungen seit Arndt und über Arndt selbst publiziert.

Arndt in den deutschen Literaturgeschichten

Nach Durchsicht eines großen Teils der einschlägigen deutschen Literaturgeschichten und Nachschlagewerke der Germanistik von 1900 bis heute muss man feststellen, dass Arndt nirgends als ein bedeutender deutscher Dichter eingestuft wird bzw. Platz eingeräumt bekommt. Auch Karl- Ewald Tietz, der Vorsitzende der Arndt-Gesellschaft, hat bei der Anhörung vom 11.12. 09 deutlich gesagt, dass Arndts Dichtung nicht über ein Mittelmaß hinausragt.

Symptomatisch für den Ansehensverlust, den Arndt im Kanon der deutschen Literatur erfährt, ist „der Kindler“. Kindler Neues Literatur Lexikon in der Auflage (Nachdruck) von 2001 hatte nur zwei Einträge zu Arndt, einen über Geist der Zeit und einen über Meine Wanderungen … mit von Stein – nichts über seine Lyrik, keine Biographie. Die neueste, stark umgearbeitete bzw. neugeschriebene Auflage von 2009 widmet ihm noch weniger Raum. Autorin ist die Göttinger Romanistin Ruth Florack, Verfasserin einer Monographie Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart 2001. Es gibt in dieser ganz aktuellen Ausgabe des Kindler nur noch einen Artikel zu Arndt, über Geist der Zeit, und dieser ist kürzer und kritischer als in der vorausgegangenen Ausgabe. Der Benutzer dieses international einflussreichen Nachschlagewerkes für Weltliteratur liest dort:

«Arndt schreckt […] weder vor dem Einsatz antifranzösischer Feindbilder noch vor rassistischen Argumenten zurück. […] Arndts umfangreiche Schrift ist scharf polemisch und bedient sich häufig einer pathetischen, religiös aufgeladenen und prophetisch anmutenden Sprache, die dem sprechenden Ich Autorität verleihen soll und stark suggestiv wirkt. Dass Geist der Zeit weit über die Entstehungszeit hinaus gewirkt hat und noch zu Beginn des 20. Jh.s für nationalistische Propaganda – insbesondere gegen den „Erbfeind“ Frankreich – vereinnahmt werden konnte, liegt im aggressiv-agitatorischen Charakter des Textes begründet.»

Viele Literaturgeschichten – so auch Safranskis vielgerühmtes Buch: Romantik. Eine deutsche Affäre von 2007 – behandeln Arndt nur sehr marginal, manche nennen ihn nicht einmal. Arndts Platz im literarischen Kanon Deutschlands ist keineswegs mehr selbstverständlich.

Erhart/Koch zwar benutzen als kuriosen Aufhänger für ihre Einführung die Hochschätzung, die Arndt in einer Literaturgeschichte von 1910 erfährt, zumal der Autor, Richard M. Meyer, Jude war. Und natürlich ist Arndt auch eine prominente Figur beim Irrationalisten und späteren Nazi Adolf Bartels in seiner Literaturgeschichte, deren erste Auflage 1901/02 erschien. Bartels lobt, wie viele NS-Germanisten und NS-Ideologen, Arndt in höchsten Tönen – zu Prämissen, die allerdings nicht die unseren sein dürften. Arndt sei schon von Rassenkenntnis getragen gewesen, er stehe fest auf der Heimaterde und im rassischen Volkstum, „in seinem Geiste werden wir siegen“. Seine Literaturgeschichte hat bis in die Dreißiger Jahre viele Neuauflagen erfahren.

Da ist Joseph Nadler in seiner Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, 1938, wesentlich zurückhaltender, ja vielleicht, wie viele andere Literaturhistoriker, etwas ratlos gegenüber Arndt. Arndt ziehe „rücksichtslose Schlüsse“, seine „grimmige Unruhe verwirrt ihm da und dort das Auge“. Zwar sei er von „gesundem Sachsentum [sic!]“, aber sein Werk mit der „betäubenden Wortgewalt“ sei nicht ohne Widersprüche. Nadler leitet seine Urteile hauptsächlich aus Arndts Geist der Zeit ab.

Literarisch wird Arndt zur politischen Poesie der Zeit der Befreiungskriege gerechnet und meist in einem Atemzug mit anderen literarischen Leichtgewichten wie Körner, Schenkendorf und Rückert genannt und oft kollektiv abgehandelt. Das Wort Poesie wird dabei auch schon mal in Anführungsstriche gesetzt, oder es heißt, ästhetisch-literarische Kriterien könne man bei ihm nicht anlegen. Wenn also bei Wikipedia zu lesen ist: „Er gilt als einer der bedeutendsten Lyriker der Epoche der Freiheitskriege“, dann bedeutet das nicht viel. Arndts Lyrik arbeite mit wenigen Versatzstücken, Frage- und Antwort-Mustern, einfachen Reimen, vagen Inhalten, leeren Pathosformeln, die durch häufiges Abdrucken und Absingen in Soldaten- und Burschenschaftsliederbüchern, aber auch in staatlich geförderten Gratispublikationen (Flugblättern etc.) eine breite Akzeptanz fanden.

Dass die Lyrik, die Lieder Arndts, allmählich ihre Bedeutung verloren haben, wird in der Illustrierten Geschichte der deutschen Literatur des Komet Verlags damit erklärt, dass bei Arndt der Nationalgedanke zu „krankhaftem Nationalismus“ neige, „beinahe chauvinistisch“ sei, andererseits damit, dass die Zeiten und mit ihnen die Kriegsführung sich geändert hätten. (In der Tat, es wird nicht mehr mit dem Schwert im Kampf Mann gegen Mann der herrliche und heil‘ge Heldentod erworben, das hörte schon – wenn nicht im Dreißigjährigen Krieg, so doch bei den Düppeler Schanzen auf, um nicht von 1870, 1914 und 1939/40 zu reden, wo Arndts Lieder bei Kriegsbeginn noch von begeisterten Soldaten gesungen wurden.)

„Ein unangenehmer, hetzerischer, angeberischer Ton geht durch die Lieder der Befreiungskriege. Die bramarbasierende Deutschtümelei, die ein, zwei Dutzend stereotyper Freiheits- und Vaterlandvokabeln“ überzeugen nicht mehr. (Lerke von Saalfeld, Dietrich Kreidt und Friedrich Rothe, München 1989)

Wenn es manchmal in der Greifswalder Debatte heißt, alle hätten damals so gedacht wie Arndt, dann wissen es die Literaturhistoriker besser – Kosegarten, z.B. Es gibt keinen heiligen Krieg, hielt er Arndt entgegen (a propos „Frischauf, Ihr deutschen Scharen!/ Frischauf zum heil’gen Krieg!“ in Arndts Katechismus…!) Es gibt bei Arndt zahlreiche andere Anrufungen des heiligen Krieges. Das tönt wirklich heute gar nicht gut. Chamisso, Kotzebue, Saul Ascher, Brentano, Heine, Herwegh z.B. sträubten sich explizit gegen Arndts Propaganda, um nicht von den ganz anderen, sehr viel moderner wirkenden früheren Positionen etwa Lessings und Goethes zu reden!

In der von Studierenden viel benutzten Metzler Literaturgeschichte (7. Auflage), heißt es, Fichte, Körner und Arndt hätten die ideologischen Grundlagen für die spätere „Erbfeindschaft“ zu Frankreich und die expandorischen Gelüste angelegt, wie sie spätere Auseinandersetzungen mit Frankreich prägten. Zitiert wird dazu aus Arndts „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Gränze“.

Ansonsten werden überall verwandte Beispiele aus der unerschöpflichen Palette schlimmer rhetorischer Barbarismen Arndts zitiert. Sie dienen in der Literaturwissenschaft als Belege für eine wahrgenommene hochproblematische Hauptlinie in seinem Schaffen und Wirken, nicht als schmunzelnd zu entschuldigende oder schnell zu übergehende „Entgleisungen“. Diese Hauptlinie ist am eindrucksvollsten, inklusive der Judenfeindlichkeit und dem obsoleten Frauenbild Arndts, in Karen Hagemanns Habilitationsschrift »Männlicher Muth und Teutsche Ehre«. Nation, Militär und Geschlecht zur Zeit der Antinapoleonischen Kriege Preußens, Paderborn 2002 herausgearbeitet.

Sehr ausführlich und kritisch beschäftigt sich Gerhard Schulz in De Boor-Newald, Geschichte der deutschen Literatur, VII/2, München 1983, mit der Literatur der Freiheitskriege. Arndt wird „großzügige Verwendung weiträumiger Begriffe mit sehr emotionaler Wirkung, aber unscharfer, schwer bestimmbarer Bedeutung“ bescheinigt, für deren Gefahr, ja Schädlichkeit es zeitgenössische Zeugnisse gebe (S. 17). Die massenhafte Wirkung dieser Literatur habe sich lange und nachhaltig auf das politische Sprechen, Singen und Denken der Deutschen ausgewirkt (S. 20). Aus der schlichten Entgegensetzung von teutscher Treuherzigkeit vs. französischer Verdorbenheit, etc. „ist eine langwirkende nationalistische Gegnerschaft gegen den Westen hervorgegangen, als dessen Ausgeburt Demokratie und Kosmopolitismus betrachtet wurden.“ (S. 31) O-Ton Arndt: „Verflucht aber sei die Humanität und der Kosmopolitismus (…) Jener allweltliche Judensinn“ (S. 3). Lieder, Losungen und Zitate von Arndt und anderen hättenVerwendung gefunden noch bei Hitler und Goebbels, und das Lied „Was ist des Teutschen Vaterland“ sei der Ursprung der Formel “Von der Maas bis an die Memel/ von der Etsch bis an den Belt“. Wirkung und Bild Arndts verdankten sich der staatlich geförderten massenhaften Verbreitung seiner Lieder (u.a. in Kurzer Katechismus für teutsche Soldaten) und den von ihm propagierten wesenhaft teutschen Zügen, wie Treue, Liebe, Einfalt, Redlichkeit, erdnahe Derbheit. Dieses einfältige Bild vom Teutschen soll Goethe 1813 zu einem Wutanfall gebracht haben (vgl. S.27).

Der zentrale Kritikpunkt bei Schulz ist der Vorwurf, dass Arndt aus der nahe liegenden zeitlich begrenzten und pragmatischen Notwendigkeit, die Widerstandskräfte gegen die napoleonische Besetzung zu erwecken, eine Theorie, ja eine Metaphysik gemacht habe und die Definition deutscher Identität so an die Abwertung und Ausgrenzung der Franzosen und der Juden [und solcher Deutschen, die später „vaterlandslose Gesellen“ genannt wurden, könnte man ergänzen!] gebunden habe. Und ein weiterer schwerwiegender Vorwurf: Zu diesem Zwecke habe Arndt „einige der besten Errungenschaften [den Entwurf einer Kulturnation durch Goethe und Schiller, Weimar und Jena] um einer momentanen Praxis willen grundsätzlich über Bord geworfen“ (S. 32).

Speziell zu den dichterischen Qualitäten wird wenig gesagt, aber zwei thematisch vergleichbare Gedichte, eines von Kleist und eines von Arndt werden einander gegenübergestellt, mit dem Fazit: „Die Simplizität der Arndtschen Verse bedeutet zugleich bessere Tauglichkeit zur Agitation“ (S. 56). Arndt habe viele mäßige, aber auch einige gute Verse geschrieben (S.27). Beispiele für gute Arndt-Gedichte bleibt der Autor schuldig. [Die holprige Strophe aus dem Kurzen Katechismus, die oben als Motto zitiert ist, enthält neben dem abstrusen Inhalt auch noch einen grammatischen Fehler! Andere Gedichte werden zusätzlich entstellt von der leerlaufenden Anrufung germanisch-nordischer Götter.]

Die bloß 4 Einträge zu Arndt im Namensregister von Norbert Altenhofer und Alfred Estermann: Europäische Romantik (=Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. Von Klaus von See, Bd. 16, 677 S.) führen nur zu marginalen Bemerkungen. Einleitend, eher generell zur Romantik, heißt es, Arndt und andere hätten „mit Teilen ihres Werkes der politischen und intellektuellen Restauration Legitimationen geliefert.“ Es gebe aber keine ungebrochene Kontinuität zwischen ihnen und den völkisch-nationalsozialistischen Bewegungen des 20. Jahrhunderts (S.2). Dagegen liest man bei Klaus von See, Freiheit und Gemeinschaft… ähnlich wie bei vielen anderen Autoren: „Fichte, Arndt und Jahn: sie gelten gemeinhin als die Väter des „völkischen“ Denkens […].“ (Freiheit und Gemeinschaft, S. 24)

Interessant noch, was die Literaturgeschichtsschreibung der DDR mit Arndt anzufangen oder eher: nicht anzufangen vermochte.

In der ersten Auflage der großen Geschichte der deutschen Literatur bei Volk und Wissen, 1978, finden sich viele verstreute Nennungen Arndts, hauptsächlich im Zusammenhang mit der ausführlichen Beschäftigung dieser Literaturgeschichte mit den Burschenschaften, für die Arndt, Fichte und Jahn viel bedeutet haben. Arndt wird attestiert, seine Argumentation sei bis zur Einseitigkeit gesteigert, der Nationalaspekt sei vorherrschend, er habe ein borniertes Nationalverständnis und sei ein chauvinistischer Franzosenhasser (147). Positiv wird gelten gelassen, dass er, allerdings „relativ gemäßigt“, den Kapitalismus gerügt habe (S. 593). Kritisiert werden auch seine moralisierende(n) völkertypologische( n) Entgegensetzungen, in deren Ergebnis das sog. deutsche Wesen als historisch gewachsen und fromm dargestellt und scharf von den liberalen, untreuen, oft direkt als teuflisch bezeichneten Franzosen unterschieden wird. Dadurch erfuhr die „Auseinandersetzung mit Napoleon eine Mystifizierung, was wiederum eine hektische Deutschtümelei begünstigte. (…) Franzosenhass war Pflicht. (…) Damit war eine für Deutschland verderbliche Tradition begründet.“ (S. 614f)

Arndts Lyrik wird ästhetisch als simpel, rein agitatorisch bezeichnet – „Das Lied der Rache“ wird erwähnt. Dann heißt es, durch ihre Machart „boten diese Lieder Ansatzpunkte, sie später für imperialistische Eroberungspolitik zu missbrauchen.“ (S. 618). Schließlich erfährt man noch, dass Friedrich Engels Arndts Erinnerungen aus dem äußeren Leben sehr geschätzt habe. (622) [Zu den „Brücken des Verständnisses“, die Herwegh und Engels überraschend finden, wenn sie Arndts historische Rolle würdigen, vgl. Klaus von See, S. 78, im Kapitel „Demokratische Kritik am Völkischen Denken“ in Freiheit und Gemeinschaft.)

1990 erschien eine 2-bändige Deutsche Literaturgeschichte von Rolf Bräuer und Klaus Gysi bei Volk und Wissen, in der die Nennungen Arndts seltener sind. Als Gegenbild zur blauen Blume der Romantik habe Arndt das Eisen-Motiv entwickelt („Der Gott, der Eisen wachen ließ“, etc.) (vgl. 323). Die „annexionistische Forderung“ in Arndts „Der Rhein, Teutschlands Strom…“ wird kritisiert. Ansonsten ist das Bild Arndts hier bleicher, wie in so vielen neueren Literaturgeschichten und Lexika.

Zuletzt noch ein Abstecher in die Theologie: ein kritisches Close Reading des Kriegsliedes „Ein feste Burg ist unser Gott“ aus der Feder des Germanisten Heinz Hillmann (Europäische Lyrik seit der Antike, Hamburg 2005, S. 212-219). Es geht um A.s ziemlich gotteslästerliche Umfunktionierung von Luthers berühmtem Kirchenlied in blutrünstige Kriegshetze gegen die Franzosen. „Gott spricht durch den Mund seines Propheten [A.] (…) Das sind weltlich-politische Ziele, und man könnte sich fragen, woher der Sprecher weiß, dass Gott genau das will.“ (S. 218) Arndt steigert sich am Schluss, er lässt „die Schwerter blitzen“ und mahnt die Hermannsschlacht zum Ansporn: „Für‘s Vaterland/ sind wir entbrannt/ Von hohem Muth!/ Von Hermanns Blut/ strotzt jede unsrer Adern!“ Hillman bezeichnet das als einen gewaltigen lyrischen Sprung. „Die Blut-Erzählung […] wird eine enorme und immer fataler werdende Zukunft haben. […] Man mag vielleicht sagen, dass das Gedicht in seiner Qualität ziemlich begrenzt ist. Hier, in unserem Beispiel, verlange „Mut“ geradezu nach dem Reim „Blut“ und findet sich deshalb auch leicht. Aber damit redet man nur hinweg, wozu der lyrische Diskurs gerade Dichter wie Hörer verführt. […] Dazu gehört nicht zuletzt der gewaltige Sprung von der ‘christlichen‘ Gottesgeschichte zur germanischen Blut-Geschichte. Solche Metonymien verschränken mühelos den germanischen mit dem biblischen Stoff. ‘Verhüt es Gott und Hermanns Blut!‘ heißt es kurz und bündig in einem anderen Gedicht. In der Lyrik lässt sich verbinden, was partout nicht zusammengehört.“ (S. 219)

Zusammenfassend:

Ich habe den entschiedenen Eindruck, dass lange noch versucht wurde, diesem angeblich „großen Mann“ pflichtschuldigst und mit angestrengter „Objektivität“ Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, während die Autoren wohl insgeheim ratlos den Kopf schüttelten über diesen „Polterer der Befreiungskriege“ (Fredrik Böök, zit. aus Uno Willers schwedischer Dissertation über Arndt von 1945; Böök hatte nichts gegen Judenfeindlichkeit einzuwenden, war er doch selbst Nazi). Einige berichten über sein Leben unkritisch mit Arndts autobiographischen Texten als Quelle, schweigen aber beredt über das literarische Werk (z.B. Emil Ermatinger, 1948, 2.Aufl. 1961). Wurde lange noch das von Arndt selbst propagierte Bild des fromm eifernden, etwas derbherzlichen Patrioten Arndt übernommen, so scheint er mir jedoch in neuerer Zeit eher und unumwundener als – um eine moderne Terminologie anzuwenden – Schreibtischtäter und anachronistischer großgermanischer Fundamentalist und Extremist wahrgenommen zu werden, von dem verhängnisvolle politische Weichenstellungen ausgingen.

Verwendete Literatur (In der Reihenfolge ihrer ersten Erwähnung) Walter Erhart und Arne Koch (Hgg.), Ernst Moritz Arndt (1769-1860). Deutscher Nationalismus – Europa – Transatlantische Perspektiven, Tübingen, 2007 – – Adolf Bartels, Geschichte der deutschen Literatur, 2 Bde. 1901/02 (zahlreiche Neuauflagen u. Bearbeitungen) – Joseph Nadler, Literaturgeschichte des deutschen Volkes. Dichtung und Schrifttum der deutschen Stämme und Landschaften, Berlin 1938 – Anselm Salzer, ard von Tunk, Illustrierte Geschichte der deutschen Literatur, 6 Bde. Komet Verlag, Frechen o.J. – Lerke von Saalfeld, Dietrich Kreidt und Friedrich Rothe, Geschichte der deutschen Literatur, München 1989 – Wolfgang Beutin,Deutsche Literaturgeschichte (Metzler Literaturgeschichte), 7. Auflage, Stuttgart 2008 – Walter Jens (Hg.), Kindler Neues Literaturlexikon, Studienausgabe der 2. Auflage, Frechen 2001 – Heinz Ludwig Arnold (Hg.), Kindlers Literatur Lexikon, 3. Auflage, Stuttgart 2009 – Ruth Florack, Tiefsinnige Deutsche, frivole Franzosen. Nationale Stereotype in deutscher und französischer Literatur, Stuttgart 2001 – Gerhard Schulz, in De Boor-Newald, Geschichte der deutschen Literatur, VII/2, München 1983 – Norbert Altenhofer und Alfred Estermann: Europäische Romantik III (=Neues Handbuch der Literaturwissenschaft, hg. von Klaus von See, Bd. 16), Wiesbaden 1983, 677 S. – Hans-Dietrich Dahnke, Geschichte der deutschen Literatur, 7 Bde. Berlin Volk und Wissen, 1978 – Rolf Bräuer, Klaus Gysi, Geschichte der deutschen Literatur, 2 Bde.,Volk und Wissen, Berlin 1990 – Rüdiger Safranski, Romantik. Eine deutsche Affäre, München, Wien 2007 (hier zit. aus der Taschenbuchausgabe 2009) – Gerhard Loh, Arndt Bibliographie, Greifswald 1969 – Uno Willers, Ernst Moritz Arndt och hans svenska förbindelser, Göteborg 1945 – Heinz Hillmann: „Nationale Lyrik im 19. Jahrhundert“, in, Heinz Hillmann und Peter Hühn (Hgg.), Europäische Lyrik seit der Antike, 14 Vorlesungen, Hamburg 2005, S. 212-219.

„In ermüdender Stupidität und starker Redundanz entwickelt er [Arndt] in den Psychidion- Briefen ein strikt anti-emanzipatorisches Frauenbild: ein noch unentdeckter Leckerbissen für die zuweilen hämisch verzogene aktuelle Gender- und Sexismus-Forschung.“

(Irmfried Garbe: „Arndt als Menschenerzieher“, in Carola Häntsch, Joachim Krüger und Jens Olesen (Hg.), Thomas Thorild (1759-1808). Ein schwedischer Philosoph in Greifswald, Greifswald 2008, S. 175.